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05.07.2020

Augenzwinkern

Sonntagskirche | 05.07.2020 | 00:00 Uhr

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Sie liegt auf der Intensivstation. Seit Dezember schon. Jeden Tag ist Leonie hingegangen. Jeden Tag hat sie sich an ihr Bett gesetzt. Hat ihre Hand genommen. Jeden Tag hat Leonie ihr vorgelesen. Ihre liebsten Bücher. Die Gedichte. Sie hat gesungen und ihre Musik angemacht.

Jeden Tag ist Leonie nach der Arbeit zu ihrer Mutter gegangen. Jeden Tag. Seit Dezember. Und jeden Tag bleibt es unbegreiflich, was passiert ist. Eine Autofahrt. Ein Unfall. Seitdem ist alles anders.

Jeden Tag. Das Highlight der Besuche ist für Leonie ein Augenzwinkern der Mutter. Ein Tag mit Augenzwinkern ist ein guter Tag.

Doch eines Tages geht es auf einmal nicht mehr. Keine Besuche mehr erlaubt. Kein Sitzen am Bett. Kein Halten der Hand. Kein Streichen über den Arm. Kein Vorlesen. Kein Singen. Keine Musik. Und auch kein Augenzwinkern.

Besuche auf der Intensivstation sind nicht mehr möglich. Wegen des Virus. Wegen Corona. Leonie darf ihre Mutter nicht mehr sehen. Nur anrufen. Doch Handhalten am Telefon – das geht nicht. Und Augenzwinkern? Augenzwinkern ist leise.

Leonie hätte nicht gedacht, dass die Situation noch schlimmer werden würde. „Was machst du, wenn du nicht da sein darfst?“ fragt Leonie.

„Wenn du nicht hingehen darfst? Wenn du nicht gucken und fühlen und tasten kannst?

Was machst du dann?

Du rufst halt an“, sagt Leonie. „Klar rufst du an. Und dann sprichst du in den Hörer. Ohne Antwort. Und wartest.

Und du fragst dich: Wann hört das auf?

Wann hört das verdammt nochmal endlich auf?

Wann hört das auf?

Du fragst das traurig. Und du fragst das wütend. Und du fragst das verzweifelt.

Und dann fragst du irgendwann nicht mehr.

Und dann fällt dir Gott ein.

Und dann fängst du wieder an zu fragen. Wann, Gott? Wie lange, Gott?

Und irgendwann fängst du an zu beten. Und dann betest du einfach.

Gott, bitte, was kann ich tun, dass ich wieder ins Krankenhaus kann? Hilf mir. Hilf, meiner Mutter. Wer sieht denn nun, wenn ihre Augen zwinkern?

Wie soll es werden, Gott? Gott, wo bist du? Wir brauchen dich hier.

Und du wünschst dir, es bringt etwas.

Und Gott? Gott ist da. Gott hört zu.

Einfach so. Gott hält das alles aus.

Die Trauer und die Wut und die Verzweiflung und das Fragen. Und das Nichtwissen.

Gott hält das aus und ist da.

Und dann fällt dir ein, Gott darf ins Krankenhaus.“

Leonie wird das nicht vergessen.

Gott sitzt am Bett.

Dann, wenn sie bei ihrer Mutter sitzt und dann, wenn sie nicht bei ihr sitzen kann.

Gott darf ins Krankenhaus. Gott sieht das Augenzwinkern.

Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze

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