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07.09.2022

Krise ohne Vermögen und Rücklagen

Menschen brauchen eine angstfreie Perspektive

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Die Bänder unserer Gesellschaft sind strapaziert, erschüttert von vielen Mikrotraumata und anfällig im Belastungstest der Krise – dieses Bild zeichnete Autorin Julia Friedrichs in der Veranstaltung „Eine Neue Arbeiterklasse?!“ am 1. September 2022 in Dinslaken. Mit Nikolaus Schneider, ehemaliger Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland und ehemaliger Ratsvorsitzender der EKD, kam sie über aktuelle Herausforderungen und Handlungsoptionen ins Gespräch. Ein Rückblick von Studienleiter Till...

Die Bänder unserer Gesellschaft sind strapaziert, erschüttert von vielen Mikrotraumata und anfällig im Belastungstest der Krise – dieses Bild zeichnete Autorin Julia Friedrichs in der Veranstaltung „Eine Neue Arbeiterklasse?!“ am 1. September 2022 in Dinslaken. Mit Nikolaus Schneider, ehemaliger Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland und ehemaliger Ratsvorsitzender der EKD, kam sie über aktuelle Herausforderungen und Handlungsoptionen ins Gespräch.
Ein Rückblick von Studienleiter Till Kiehne.

„Unsere Kinder sollen es einmal besser haben“, dieses Versprechen an zukünftige Generationen war eines der zentralen Motive der deutschen Nachkriegszeit. Heute ist es kaum noch zu halten: die jüngeren Generationen unserer Gesellschaft werden den Wohlstand ihrer Eltern wohl nicht mehrheitlich erreichen oder gar übertreffen können. Denn obwohl die Wirtschaft in den vergangenen Dekaden wuchs, konnten weite Teile der Gesellschaft in keine Rücklagen erwirtschaften. Aktuell stehen 40% der Menschen in Deutschland ohne Rücklagen dar und 60% der Bevölkerung können aktuell kein Geld sparen. Krisen, Verdienstausfälle und Umbrüche treffen diese Gruppe hart. Sie blicken bang in die Zukunft.

Die Journalistin und Autorin Julia Friedrichs spürt in ihrem Buch „working class“ den Dynamiken nach, die diesem Wandel zu Grunde liegen. Ihre Analyse trug sie in die hybride Kooperationsveranstaltung der Akademie mit der Diakonie Dinslaken und dem Laboratorium der Evangelischen Kirchenkreise Duisburg, Dinslaken, Moers und Wesel hinein. In ihrer Lesung skizzierte sie die ungleiche Verteilung von Wohlstand innerhalb der Gesellschaft und illustrierte diese Prozesse anhand zweier Beispiele von Menschen im unteren Einkommenssegment, die sie über viele Monate begleitet hat – einer Reinigungskraft der U-Bahnhöfe Berlins und einer Musiklehrerin aus Nordrhein-Westfalen.

Eine Gruppe außerhalb des Sichtfeldes  

Die präzise Analyse sei dabei für sie zentral: „Die Leute, die ich getroffen habe, sind nicht arm, sondern gehören zu einer Gruppe, die ganz lange komplett übersehen wurde.“ Diese Unsichtbarkeit würde bereits daran deutlich, dass es im Deutschen keine genaue Bezeichnung dieser Gruppe gäbe. Julia Friedrichs ringt um die Benennung: „Ich würde sagen es ist die untere Hälfte der Mittelschicht“, führt sie aus. „Menschen, die in der Regel nicht auf Sozialhilfe angewiesen sind, die es aber auch nicht mehr schaffen, durch ihre Arbeit Rücklagen aufzubauen“. Das unterscheide diese Menschen von der Arbeiterklasse der 1980er Jahre, in denen ein Aufstieg durch Arbeit durch gute Organisation, große Betriebe und Gewerkschaft in der Breite möglich war.

Es dürfe dabei nicht vergessen werden, unterstrich Julia Friedrichs, dass diese Menschen trotz eigener Belastung weiterhin durch ihre Steuern den Sozialstaat mittragen, während Vermögen und Kapitel kaum besteuert würden. Dies sei eine Unwucht, die seit den 80er Jahren entwickelt habe.

Auf sich allein gestellt   

Die Differenz zu den Arbeiter:innen der 1980er Jahre unterstrich Nikolaus Schneider, der als Pfarrer und Superintendent in der Region Duisburg die Kämpfe der Arbeiter:innen dieser Zeit eng begleitet hat und als Podiumsgast auf vergangenes und kommendes blickte. Damals sei es der Rückhalt in der Gesellschaft vor Ort gewesen, der die Handlungsfähigkeit der Arbeiter:innen und ihrer Vertretung ermöglicht habe: „Es gab eine feste Struktur und diese Struktur war kommunikationsfähig. Es war plausibel für den Bäcker, für den Apotheker und für den Arzt: das waren Ihre Leute. Die gehörten zusammen und das musste man nicht groß erklären, sondern es ergab sich aus dem alltäglichen Zusammenleben.“ Diese Sichtbarkeit der Arbeiter:innen und die damit verbundene Solidarität gäbe es heute aufgrund der Zersplitterung von Unternehmensstrukturen und steigender Individualisierung nicht.

[caption id="attachment_1169" align="alignright" width="220"]Blick auf den Livestream auf einem Laptopbildschirm. Zu sehen sind Nikolaus Schneider, Julia Friedrichs und Till Kiehne. Ein Livestream ermöglichte auch die digitale Teilnahme.[/caption]

„Insofern waren das ganz andere Voraussetzungen als kleine parzellierte Strukturen, in denen sich sehr viel stärker ein völlig individualisiertes Erleben einstellt und die Verknüpfungsaufgaben viel größer sind“, führt Nikolaus Schneider aus. Das Herstellen von Zusammenhängen sei daher eine viel größere Herausforderung als in Zeiten in denen Betrieb und Stadtteil eng miteinander verwoben waren, wie es auch am Veranstaltungsort am Gelände der ehemaligen Zeche in Dinslaken Lohberg der Fall war.

Die Menschen die Julia Friedrichs heute begleitet erleben genau diesen Rückhalt nicht. Sie arbeiten allein, oft ohne Begegnung mit Kolleg*innen. „Da wächst kein Kollegium, da wächst kein Miteinander, da wächst nichts wo so etwas entstehen kann wie Solidarität,“ erläutert Julia Friedrichs. Diese Individualisierung hinterlasse Spuren. Die Schwachstellen des Systems würden eigenem Versagen zugeschrieben: „Es liegt an mir,“ zitiert Friedrichs und „wenn es härter wird müssen wir noch härter arbeiten, müssen wir vielleicht den Sonntag noch dazu nehmen.“ Die Konsequenz der angespannten Lage, der sozialen Schieflage, sei nicht der solidarische Zusammenschluss, sondern das individuelle Ertragen des Missstandes.

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Krisen offenbaren die Risse im System

Die Kumulation der aktuellen Krisen trifft diese Menschen nun besonders hart. Wachsende Energiekosten und steigende Inflation wirken sich in Haushalten mit geringen Einkommen besonders aus. Drei bis viermal so hoch sei die Inflation für diese Gruppe, analysierte der Ökonom Marcel Fratzscher einen Tag vor der Veranstaltung in einer Talkshow. Das sind Zahlen, die Julia Friedrichs zu illustrieren weiß: „Jede Rechnung, die jetzt kommt, ist erst einmal etwas das Stress auslöst, das Panik auslöst, das die Frage auslöst: Wie soll es denn nur weiter gehen?“ Wo gilt es nun gegenzusteuern? Diese Frage diskutierten die Referent:innen zum Ende der Veranstaltung.

Es muss vorbeugend gehandelt werden

Julia Friedrichs sprach sich mit Blick auf die für den Herbst erwartete Energiearmut für schnelle und vorbeugende Zahlungen für das untere Einkommensdrittel aus, um Menschen eine angstfreie Perspektive zu bieten. Als Gesellschaft blickten wir in eine offene Zukunft: „Ich glaube wird sind an einer Weggabelung. Es kann total gut ausgehen, sodass man sagt, das war ein Moment in dem man neue Zusammengehörigkeit entdeckt hat, aber es kann auch richtig mies werden.“

[caption id="attachment_1168" align="alignleft" width="220"]Zu sehen sind Julia Friedrichs und Nikolaus Schneider auf einem roten Sofa. Julia Friedrichs und Nikolaus Schneider[/caption]

Auch Nikolaus Schneider blickt in diesem Zusammenhang auf die Bundesregierung: „Gesellschaftlich wird es sehr wichtig sein, was die Ampel-Koalition auf die Reihe bekommt. Es wird ganz entscheidend sein was da kommt und es wird auch der Geist entscheidend sein.“ Es brauche nun ein starkes Signal und eine Abkehr vom herrschenden Misstrauen in der Sozialgesetzgebung, um gesellschaftlich über die nächsten Hürden zu kommen. Doch auch die Kirche sei gefordert: „Wir haben in der biblischen Botschaft genügend Narrative, die auf den Zusammenhalt einer Gesellschaft abzielen. Die darauf abzielen, dass wir für einander Verantwortung haben, und dass wir gerade diejenigen, die unter die Räder zu kommen drohen, nicht unter die Räder kommen lassen“.

 

 

Die Veranstaltung fand vor dem Hintergrund des Themenjahres Kinderarmut der Diakonie Dinslaken statt. Weitere Termine des Themenjahres:

Was ist aus den Zielen in den Wahlprogrammen der Parteien geworden?
Dienstag, 13. September 2022, 18.30 bis 21 Uhr
Evangelische Kirchengemeinde Dinslaken, Duisburger Str. 72, 46535 Dinslaken